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Karl Stamm
Der
Aufbruch des Herzens . 1. Auflage 1919
Einer Neunzigjährigen
Sie saß am Weg, den Blick in sich gewandt,
der Rosenkranz ging leise durch die Hand.
Sie betete. Wie fremd die Stimme klang!
Mir war, aus ihrem tiefsten Innern drang
das Werklied eines, der in ewigem Tun
nie läßt die unsichtbaren Meißel ruhn.
Er löst von ihrem Haupt das bleiche Haar,
er meißelt an der Rippen welkem Paar,
durchs müde Fleisch die tiefen Spuren gehn.
Bald kann sein Werk er in Vollendung sehn:
Durch schmaler Finger knochiges Gerüst
ihn schimmernd schon sein eigenes Wesen grüßt,
Die Stirne ragt entblößt und kantig-scharf.
Nur weniger Züge noch das Haupt bedarf,
dann fällt des Lebens hüllendes Gewand,
das ihm fast ein Jahrhundert widerstand.
Sein Ebenbild durch ihren Leib sich bricht;
ein großes, ein erschütterndes Gedicht.
Die Meißel gleiten und der Hammer klingt.
Die Stunden rinnen. Horch! Die Greisin singt.
Karl
Stamm . 1890 - 1919
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