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Ferdinand Freiligrath
Gedichte
. 1848
Der Rufer an der Rhone
nach Marceline Desbordes-Valmore
Das Erntemädchen war gekrönt; von frischen Kränzen
Zog festlich sich vom Dorf zur Stadt ein Blumenband.
Die Kinder trugen heut' ihr buntestes Gewand,
Im Aug' der Greise sah man Erntefreude glänzen.
Auf einmal endigte die Lust,
Dem Irrlicht ähnlich, das, wie es entsteht, verglüht.
Ein langer Schrei fuhr kalt, wie Eis, durch jede Brust,
Verstummt war jedes Lied.
"Zurück, zurück, das Kind, das sich verlief im Schwarme!
Die Mutter weint! - das Kind! - o, daß sich Gott erbarme!
Zu dumpfem Brüten ward ihr lautes, wildes Klagen;
Für ihren bittern Schmerz hat sie nicht Worte mehr.
Hört! daß ihr es erkennt: es sagt euch nicht, wie sehr
Es zu bejammern ist; nur: Mutter! kann es sagen.
Noch Keiner, der: hier ist es! rief?
Hat es am Ufer denn kein Einz'ger spielen sehn?
O Gott, die Rhone ist so tief! -
Ein schwaches Kind! - kaum konnt' es gehn! -
Zurück, zurück, das Kind, das sich verlief im Schwarme!
Die Mutter weint! - das Kind! - o, daß sich Gott erbarme!
Sein Aug' ist schwarz und sanft, es hat erst wenig Zähne,
Gelb, wie das reife Korn, ist meines Kindes Haar;
Furchtsam und schwankend geht's, und mit Kornblumen war
Sein Kleid besetzt; gewiß steht eine helle Thräne
In seinem Aug'; - ihr kennt es, wär'
Es nackt - oft nahm ja schon die Armuth schwachen Kleinen
Ihr Kleid! - ein Engel, ohne Wehr,
Würd' es in seiner Blöße weinen!
Zurück, zurück, das Kind, das sich verlief im Schwarme!
Die Mutter weint! - das Kind! - o, daß sich Gott erbarme!"
Der alte Rufer schweigt; ein: hier! nur aus dem Volke
Will er, lang wartet er; - umsonst - die Mütter sind
Wortlos, und jede drückt fest an die Brust ihr Kind;
Der Schrecken legt sich trüb aufs Fest, wie eine Wolke.
Man sagt, daß mit verstohlnem Gang,
In Lumpen eingehüllt, barfuß ein Bettler dorten
Schlich; unter seinem Mantel klang
Ein leises Wimmern zu den Worten:
"Zurück, zurück, das Kind, das sich verlief im Schwarme!
Die Mutter weint! - das Kind! - o, daß sich Gott erbarme!"
Ferdinand
Freiligrath . 1810 - 1876
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