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Ferdinand Freiligrath
Gedichte
. 1848
Die Stechpalme
nach Robert Southey
O Leser, hast du je betrachtet die
Stechpalme? - Sieh'
Ihr glattes Laub, wie eine weise Hand
Es zum Gewand
Dem Baume gab, so sinnig, daß daran
Des Atheisten Klugheit scheitern kann.
Denn unten, wie ein Zaun von Dornen, starrt
Es scharf und hart;
Kein weidend Vieh durch diesen spitzen Saum
Verletzt den Baum.
Doch oben, wo die Rinde nichts befährt,
Wird stachellos das Laub und unbewehrt.
Dies ist ein Ding, wie ich's betrachten mag;
Gern denk ich nach
Des Baumes Weisheit; seiner Blätter Zier
Reicht willig mir
Ein Sinnbild für ein Lied, das lange Zeit
Nach mir vielleicht noch nutzt und auch erfreut.
So, schein' ich draußen auch zuweilen rauh
Und herbe; schau
Ich finster auch, wenn mich am stillen Herd
Ein Läst'ger stört,
Doch streb' ich, daß ich Freunden, gut und treu,
Sanft, wie das Laub hoch auf der Stechpalm' sei.
Und heg' ich jung, wie wohl die Jugend thut,
Auch Uebermuth
Und Trotz, doch schaff ich, daß ich jeden Tag
Sie mindern mag:
Bis ich im hohen Alter mild von Sinn,
Gleich dieses Baumes hohen Blättern, bin.
Und wie, wenn alle Sommerbäume grün
Dastehn und blühn,
Die Blätter dieses einz'gen Baumes nie
So glühn, wie sie,
Doch spät im öden Winter uns allein
Mit ihrem dunklen Immergrün erfreun:
So auch in meinen Jugendtagen will
Ich ernst und still
Im Kreis der Jugend sein, die unbedacht
Des Ernstes lacht,
Auf daß mein Alter frisch und fleckenfrei,
Gleich dieses Baumes grünem Winter, sei.
Ferdinand
Freiligrath . 1810 - 1876
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