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Franz Grillparzer
Gedichte
. 1872
Cherubin
An eine Sängerin.
(1812.)
Wer bist du, die in meines Herzen Tiefen,
Die nie der Liebe Sonnenblick durchstrahlt,
Mit unerklärter Zaubermacht gegriffen?
Wer bist du süße, reizende Gestalt?
Gefühle, die im Grund des Herzens schliefen,
Hast du geweckt mit himmlischer Gewalt,
Gefesselt ist mein ganzes, tiefstes Wesen,
Und Kraft und Wille fehlt das Band zu lösen.
Seh' ich der Glieder zarte Fülle prangen,
Gehüllt ins schöngeschmückte Knabenkleid,
Die runden, lieb- und schamgefärbten Wangen,
Die blöde knabenhafte Schüchternheit,
Das dunkle erst erwachende Verlangen,
Das brennend wünscht und zu begehren scheut,
Den Flammenblick, tief in den Grund gegraben,
So scheinst du mir der reizendste der Knaben.
Doch seh' ich dieses Busens Wallen wieder,
Verrätherisch durchs neid'sche Kleid gebläht,
Den Nacken, glänzend, wie des Schwans Gefieder,
Von reichem, seidnem Lockenhaar umweht,
Hör' ich den Himmelsklang der Zauberlieder,
Und was ein jeder Sinn noch leis' erspäht,
Horch' ich des Herzens ahnungsvollen Tönen,
So nenn' ich dich die Krone aller Schönen.
Schlicht' diesen Sturm von kämpfenden Gefühlen,
Gebiete diesem wildempörten Blut,
Laß meinen Blick in diesen Reizen wühlen,
Laß mich der heißen Lippen Fiebergluth
In dieses Busens regen Wellen kühlen;
Und meiner Küsse räuberische Fluth
Soll das Geheimniß dir im Sturm entreißen,
Welch ein Geschlecht du würdigst sein zu heißen.
Franz
Grillparzer . 1791 - 1872
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