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Karl von Holtei
Gedichte . 4. Auflage 1856



Zu spät!

Noch weilt der Mai, noch blühen tausend Wonnen,
Noch schmücket sich das Leben frisch und grün;
Noch sauget sich am freien Strahl der Sonnen
Das matte Herz auf's Neue jung und kühn;
Noch stehen wir, noch nicht in's Grab gesä't,
Noch leben wir, noch ist es nicht zu spät.

Doch morgen schon vielleicht? Wer kann es wissen,
Welch' dumpfe Kunde morgen mit sich bringt?
Schon morgen ist von uns'rer Brust gerissen,
Was heute noch uns liebevoll umschlingt;
Um Mitternacht, bei bleichem Sternenschein,
Kann schon der Tod hereingetreten sein.

Gedenket dess'! Nicht nur die theuren Freunde,
- Die leben wohl in uns'rer Liebe fort, -
Der Tod entreißt uns auch vielleicht die Feinde,
Die einst geliebten, ohne Abschiedswort?
Wenn unversöhnt ein Herz hinüber geht,
Da sagen wir: Ach Gott, nun ist's zu spät!

Da stehen wir am zugeworf'nen Grabe,
Aus dem für uns kein tröstend' Blümchen blüht.
Wie Mancher gäbe seine ganze Habe
Für Ruhe im zerrütteten Gemüth?
In Einsamkeit, wo Niemand ihn erspäht,
Seufzt er mit Thränen: Gott, es war zu spät!

Und wen das Leben hart von Euch geschieden,
In alte Rechte setzt der Traum ihn ein! -
D'rum, weil's noch Zeit, bedenket Euren Frieden,
Laßt die Versöhnung Eure Heil'ge sein:
Befolget, was ein warmes Herz Euch räth,
Denn für gebroch'ne Herzen ist's zu spät.


  Karl von Holtei . 1798 - 1880






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