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Karl von Holtei
Gedichte
. 4. Auflage 1856
Zur Eröffnung meiner Vorlesungen
(Berlin, 1840.)
Es hat einmal ein frischer Baum
In großem Garten gestanden,
Um dessen grünen Schattenraum
Sich gern die Freunde fanden,
Weil, bei der Frühlings-Lüfte Spiel
Herab manch' kleine Blüte fiel.
Oft hat das Wetter den Baum entlaubt,
Doch er grünte fröhlich wieder;
Es klangen aus seinem Wipfelhaupt
Der Frühlingsvögel Lieder,
Und immer treu, von Jahr zu Jahr,
Begrüßte ihn der Freunde Schaar.
Von Jahr zu Jahr auf's Neu' bedroht,
Vom wilden Sturm durchrüttelt,
Schien manchmal er ein Bild der Noth,
Halb dürr, vom Frost geschüttelt. -
Doch ob man wenig Blüten sah,
Die Freunde blieben dennoch da.
Zuletzt hat eines Winters Gewalt
Den Baum im innersten Leben
Ergriffen; es hat ihm eisig kalt
Der Norden den Rest gegeben;
Er grünt nicht mehr, er blüht nicht mehr,
Er ist an Liebe und Hoffnung leer.
Was werden seine Freunde thun?
Sie werden sich von ihm wenden;
Ach, er vermag ja leider nun
Nicht Blüte, noch Schatten zu spenden.
Sie werden lächelnd von dannen geh'n,
Der entblätterte Baum bleibt einsam steh'n.
O Wunder! Nein! die Freunde sind
Wie sonst um ihn versammelt;
Sie grüßen ihn, mild wie sonst gesinnt,
Und des Baumes Dryade stammelt:
Sollte noch ein Keim verborgen sein,
Entfaltet ihn dieser Sonnenschein.
Karl
von Holtei . 1798 - 1880
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