9. Die Erscheinung

Du warst mir fern und fremd; ob nah' verwandt,
Umschlang uns noch kein nahes Seelenband:
Ich trug ein dunkles Bild nur Deiner Jugend
Im Angedenken. Doch der Ruf der Tugend,
Der Anmuth, Huld und Güte zog mich hin,
Ich suchte Dich, und welch ein Hochgewinn:
Ich lernte Dich im vollsten Werthe kennen,
Ich durfte stolz mich Deinen Freund benennen,
Ja, stolz auf Dich und Deine Liebe sein!

Ein Wort stürzt über mir den Himmel ein;
Es wankt, es bricht, und aus des Bruders Munde
Vernehm' ich dröhnend jene Todtenkunde,
Die mich erschüttert bis in's tiefste Herz.
O Gott der Gnade, welch ein Höllenschmerz!

Da ruf' ich aus, von Angst und Qual umwunden:
Ach, hätt' ich doch die Theure nie gefunden,
Daß sie mir fremd geblieben, wie sie's war!
So wär' ich jetzt des heißen Grames baar:
So klagt' ich wohl um sie, wie man im Leben
Um Alle klagt, die früh der Erd' entschweben;
So fänd' ich Fassung leicht und weiht' ihr gern
Die flücht'ge Thräne aus der weiten Fern'.

Wie ich das denke, rauschen sanfte Töne,
Die Nacht wird hell, und Sie in voller Schöne,
Bleich, aber hold, erscheint vor meinem Blick;
Ein schmerzlich Lächeln zuckt um ihre Wangen.
Sie sagt: "Du tadelst heute Dein Geschick?
Mich nicht zu kennen mochtest Du verlangen?
Besinne Dich, ergründe ganz Dein Herz:
War ich Dir werth, ist's nicht jetzt auch der Schmerz?
Der Schmerz um mich? Erproben Schmerzenstriebe
Nicht eben recht die Freundschaft und die Liebe?"

Mich treibt ein Glüh'n, ein namenloses Bangen,
Ich spring' empor, will weinend sie umfangen,
Doch fass' ich nichts als leere kalte Luft,
Um mich weht nächtlich Grabes-Moder-Duft. -

- Die Worte aber, die sie sprach, die leben
Im Geist fort, die füllen ganz mein Herz.
Ja, sie hat Recht: wie lieb ist mir der Schmerz,
Ich möcht' ihn nicht um alle Schätze geben.


  Karl von Holtei . 1798 - 1880

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