Die letzte Stunde

(Riga 1839.)

Melodie vom ergrauten Mütterchen.

Wie oft in meinem armen Leben
Hat - eben dieser Stunde gleich -
Es Stunden auch für mich gegeben,
Wo ich nicht arm war, wahrlich reich!
Wo in der liebsten Freunde Kreise
Ein fest'res Band auch mich umschlang,
:,: Und wo des Liedes leichte Weise
Zum Gläserklange mit erklang. :,:

Zwar immer blieb dem Klang' der Freuden
Ein traurig Wort hinzugesellt;
Dies Losungswort heißt: wieder scheiden!
So treibt's mich rastlos durch die Welt.
Seit zwanzig Jahren schon, und länger,
Fand ich der Heimat Frieden nur,
:,: Um ihn zu flieh'n und immer bänger
Zu suchen die verlor'ne Spur. :,:

Hier kam ich an, am Wanderstabe,
Und legt' ihn muthig aus der Hand,
Mit Allem, was ich bin und habe,
Mit Geist und Herz Euch zugewandt.
Ich wollte Bürgerrecht erwerben,
Mir, wie den Meinen, hier am Ort,
:,: In Freuden leben, wirken, sterben,
Dem Schiffer gleich, im sichern Port. :,:

Vergeb'nes Wähnen! eitles Hoffen!
Der Sturm erreichte mich auch hier;
Von seinem wilden Hauch getroffen,
Verwelkte meiner Blumen Zier.
Da hab' ich nun den Kranz der Musen,
Den ich für Euch, mit ihr, gepflegt,
:,: Voll Wehmuth auf den kalten Busen
Der lieben Todten hingelegt. :,:

Und alle Qualen, alle Schmerzen -
Gar oft erzeugt durch eig'ne Schuld -
Senkt' ich mit halbgebroch'nem Herzen,
Doch mit Entsagung und Geduld,
Zu jenem Sarg in Eure Erde,
In jenes kalte Grab hinein,
:,: D'rum soll von jetzt - was aus mir werde! -
In Riga meine Heimat sein. :,:

Mit dem Gedanken laßt mich scheiden,
Reicht mir den alten Wanderstab;
Ich bebe nicht vor neuen Leiden,
Es giebt dafür ein sich'res Grab.
Die Heimat hab' ich mir erworben,
Das Bürgerrecht hab' ich erstrebt;
:,: Für ewig ist ja nicht gestorben,
Was man für diese Welt begräbt. :,:


  Karl von Holtei . 1798 - 1880

Expressionisten
Dichter abc