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Karl von Holtei
Gedichte
. 4. Auflage 1856
45.
Frühlings-Athem weht entgegen,
Blumenduft verkündet frei,
Nahe sei mit reichem Segen
Der geliebte holde Mai.
Und ich trete bang' in's Grüne,
Laue Luft lockt weit hinaus,
Aengstlich flieh' ich uns're Bühne,
Unser kaltes, düst'res Haus.
Als ich nun die feuchten Blicke
Hebe, wo gerieth ich hin?
Geh' ich vor - geh' ich zurücke,
Weil ich auf dem Kirchhof bin?
Nein, ich bleibe! Laßt mich sehen,
Wie aus diesem großen Grab'
Zweig' und Blümchen froh erstehen -
Nur ein Veilchen pflück' ich ab.
Alle Keime, die das Leben
In der Erde Tiefe barg,
Dürfen heiter sich erheben
Aus dem kalten Wintersarg.
Alle Vögel singen Lieder,
Neu erblüht der Blumen Heer,
Blatt und Gras erstehen wieder,
Nur die Todte nimmermehr!
Nur ihr Lebensfeuer lodert
Aus dem großen Aug' nicht mehr;
Ihre zarte Hülle modert,
Tiefe Nacht bedeckt sie schwer.
Aber, was in ihr gewaltet,
Ihre Seele, ihr Gemüth
Lebt, so lange unveraltet
Noch ein Geist des Guten glüht.
Ja, sie lebt zum Eigenthume
Mir in der Erinnerung.
Ja, sie lebt in jeder Blume,
In dem Laube grün und jung.
Dieser Trost soll mich erlaben,
Meine Hoffnung setz' ich d'rauf:
Die ein Winter hat begraben,
Jeder Frühling weckt sie auf.
Karl
von Holtei . 1798 - 1880
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