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Karl von Holtei
Gedichte
. 4. Auflage 1856
36.
Was sprecht Ihr von hochtragischem Vermögen,
Von Kräftigkeit der süßen Julia?
Tritt Euch denn nicht das zart're Bild entgegen,
Wie Shakspear's Geist es selbst im Geiste sah?
Wohl sah ich größte Meisterin sich regen,
Doch meiner Julia kommt keine nah';
Sie war es selbst, in Unschuld, Lieb' und Treue,
Daß, ohne Kunst, sie durch Natur erfreue.
Ihr stand es wohl, sich liebend hinzugeben,
Denn für die Unschuld giebt es kein Gebot;
Was sie erlebt, das ist ein reines Leben,
Und wenn sie stirbt, verschönt sie auch den Tod.
Wie selig klang ihr erstes Liebebeben
Von dem Balkon in's ferne Morgenroth!?
Man wußte nicht, wer da so lieblich kose:
War sie's? War's Nachtigall? War's Hauch der Rose?
Und wenn sie nun von aller Welt verlassen,
Im Schlaftrunk letzte Hülfe noch geglaubt,
Da sah man wilde Schauder sie erfassen,
Als wären ihr die Sinne schon geraubt,
Als wüßte sie auf immerdar erblassen,
Als sänke zur Verwesung schon ihr Haupt,
Als wollte ew'ge Nacht sie schon umwittern; -
Wir glaubten ihr und konnten mit ihr zittern.
O Julia! Du liegst im Leichentuche,
Im kalten, undurchdringlichen Gemach;
Gebrochen ist Dein Leben von dem Spruche
Des Schicksals; keine Klage ruft Dich wach,
Kein Romeo erweckt zu härt'rem Fluche
Dich durch sein letztes sterberöchelnd "Ach!"
Dein Vorhang fiel nach Lebens Ernst und Spiele! -
O daß er jedem Spieler also fiele!
Karl
von Holtei . 1798 - 1880
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