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Gesammelte Gedichte
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Gottfried Keller
Gesammelte Gedichte . 3. Auflage 1888



Der Kirchenbesuch

Wie ein Fischlein in dem Garn
Hat der Dom mich eingefangen,
Und da bin ich festgebannt,
Warum bin ich drein gegangen?
Ach, wie unter breiten Malven
Taubesprengt ein Röslein blitzt,
Zwischen guten Bürgerfrauen
Hier mein feines Liebchen sitzt!

Die Gemeinde schnarcht so sanft,
Wie das Laub im Walde rauschet.
Und der Bettler an der Tür'
Als ein Räuber guckt und lauschet;
Doch wie eines Bächleins Faden
Murmelnd durch's Gebüsche fließt,
So die lange dünne Predigt
Um die Pfeiler sich ergießt.

Eichenbäume, hoch und schlank,
All' die gotischen Pfeiler ragen;
Ein gewölbtes Blätterdach
Ihre krausen Aeste tragen;
Untenher spielt hin und wieder
Dämmerhaft ein Sonnenschein;
Wachend sind in dieser Stille
Nur mein Lieb und ich allein.

Zwischen uns webt sich ein Netz
Von des Lichts gebrochnem Strahle,
Drin der Taufstein, grün und rot,
Wandelt sich zur Blumenschale;
Ein geflügelt Knäblein flattert
Auf des Deckels altem Knauf,
Und es gehen uns im Busen
Auch der Sehnsucht Rosen auf.

Weit hinaus, ins Morgenland,
Komm, mein Kind, und laß uns fliegen,
Wo die Palmen schwanken am Meer
Und die sel'gen Inseln liegen,
Flutend um die große Sonne
Grundlos tief die Himmel blau'n:
Angesichts der freien Wogen
Uns're Seelen frei zu trau'n!


  Gottfried Keller . 1819 - 1890






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