162 Bücher
|
Gottfried Keller
Gesammelte
Gedichte . 3. Auflage 1888
Frühlingsbotschaft
Zum Gerichte rief der Frühling.
Denn mit Strenge zu verfahren
Gegen ketzerisch verstockte
Uebelsinnige Verzweiflung,
Haben seine Heiligkeit
Bei der Sonne Glanz geschworen.
Und in grünem Feuer flammen
Alle Bäume nun auf Erden,
Jeder Baum ist eine Flamme!
Und geschürt sind alle Gluten,
Angefacht glüh'n alle Rosen,
Während die schismatisch grauen
Aufgelösten Nebelflocken
Klagend durch die Lüfte flattern,
Gleich verbrannter Ketzer Asche;
Doch der heilig ernste Himmel
Läßt sie ohne Spur verschwinden,
Und er schaut in's grüne Feuer
Mit erbarmungsloser Bläue.
Habt ihr jetzo unter euch
Einen schlimmen und verschraubten
Heuchlerischen und verstockten
Und verbohrten Hypochonder,
Der da zwischen Gut und Böse
Eigensinnig schwankt und zweifelt,
Weder warm noch kalt kann werden,
Oder zu gerechtem Argwohn
Grund gibt, daß sein schwarzes Inn'res
Wohl ein ungeheures hohles
Aufgeblas'nes Schisma berge:
Diesen legt nun auf die Folter,
Diesen lasset nun bekennen!
Bindet ihn mit jungem Epheu,
Werft ihn nieder auf die Rosen,
Gießt ihm Wein auf seine Zunge,
Tropfen flüssig heißen Goldes,
Das den Mann zum Beichten zwingt,
Glas auf Glas, bis er bekennt!
Zeiget sich ein Hoffnungsfunke,
Nur ein Fünklein heitern Glaubens,
Nur ein Strahl des guten Geistes,
O so stellt ihn auf zur Linken,
Zur Belehrung und zur Bess'rung!
O so stellt ihn, wo das Herz schlägt,
Auf der Menschheit frohe Linke,
Auf des Frühlings große Seite!
Sollt' es sich jedoch ereignen,
Daß das peinliche Verfahren
Nichts enthüllte, nichts ergäbe,
Was da nur der Rede wert,
Das Delirium des Rausches
Selbst nur eine dunkle Leere
Vor den Richtern offenbarte:
Schleunig laßt den Sünder laufen,
Jagt ihn stracks zur schnöden Rechten,
Wo Geheul und Zähneklappen,
Dummheit und Verdammniß wohnen!
Gottfried
Keller . 1819 - 1890
|
|