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Gottfried Keller 
 
Gesammelte
Gedichte . 3. Auflage 1888 
 
 
 
Land im Herbste 
Die alte Heimat seh' ich wieder, 
Gehüllt in herbstlich feuchten Duft; 
Er träufelt von den Bäumen nieder, 
Und weithin dämmert grau die Luft. 
 
Und grau ragt eine Flur im Grauen, 
Drauf geht ein Mann mit weitem Schritt 
Und streut, ein Schatten nur zu schauen, 
Ein graues Zeug, wohin er tritt. 
 
Ist es der Geist verschollner Ahnen, 
Der kaum erstrittnes Land besät, 
Indeß zu Seiten seiner Bahnen 
Der Speer in brauner Erde steht? 
 
Der aus vom Kampf noch blut'gen Händen 
Die Körner in die Furche wirft, 
So mit dem Pflug von End' zu Enden 
Ein jüngst vertriebnes Volk geschürft? 
 
Nein, den Genossen meines Blutes 
Erkenn' ich, da ich ihm genaht, 
Der langsam schreitend, schweren Mutes 
Die Flur bestäubt mit Aschensaat. 
 
Die müde Scholle neu zu stärken 
Läßt er den toten Staub verweh'n; 
So seh' ich ihn in seinen Werken 
Gedankenvoll und einsam geh'n. 
 
Grau ist der Schuh an seinem Fuße, 
Grau Hut und Kleid, wie Luft und Land; 
Nun reicht er mir die Hand zum Gruße 
Und färbt mit Asche mir die Hand. 
 
Das alte Lied, wo ich auch bliebe, 
Von Mühsal und Vergänglichkeit! 
Ein wenig Freiheit, wenig Liebe, 
Und um das Wie der arme Streit! 
 
Wohl hör' ich grüne Halme flüstern 
Und ahne froher Lenze Licht! 
Wohl blinkt ein Sichelglanz im Düstern, 
Doch binden wir die Garben nicht! 
 
Wir dürfen selbst das Korn nicht messen, 
Das wir gesät aus toter Hand; 
Wir gehn und werden bald vergessen, 
Und unsre Asche fliegt im Land!
 
 
 
 
Gottfried
Keller . 1819 - 1890 
 
 
  
 
 
 
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