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Gottfried Keller 
 
Gesammelte
Gedichte . 3. Auflage 1888 
 
 
 
Via mala! 
Wie einst die Tochter Pharaos 
Im grünen Schilf des Niles ging, 
Deß Auge hell, verwundrungsgroß 
An ihren dunkeln Augen hing; 
Wie sie ihr Haupt, das goldumreifte, 
Sehnsüchtig leicht flutüber bog, 
Um ihren Fuß das Wasser schweifte 
Und silberne Ringe zog: 
 
So seh' ich dich, du träum'risch Kind, 
Am abendlichen Rheine stehn, 
Wo seine schönsten Borde sind 
Und seine grünsten Wellen geh'n. 
Schwarz sind dein Aug' und deine Haare, 
Und deine Magd, die Sonne flicht 
Darüber eine wunderbare 
Krone von Abendlicht. 
 
Ich aber wandle im Gestein 
Und wolkenhoch auf schmalem Steg, 
Im Abgrund schäumt der weiße Rhein 
Und Via mala heißt mein Weg! 
Dir gilt das Tosen in den Klüften, 
Nach dir schreit dieses Tannenweh'n, 
Bis hoch aus kalten Eiseslüften 
Die Wasser jenseits niedergeh'n!
 
 
 
 
Gottfried
Keller . 1819 - 1890 
 
 
  
 
 
 
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