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Gottfried Keller
Gesammelte
Gedichte . 3. Auflage 1888
Das große Schillerfest
1859.
Schnee und Regen floß hernieder
Auf novemberbraunen Bergen,
Trostlos rangen alle Wipfel
Mit den schweren grauen Wolken.
Von den Büschen troff es klagend,
Jeder Dorn war eine Traufe,
Die hinab von Dorn zu Dornen,
Unaufhörlich floß und weinte.
Aus den dunklen Forsten wankte
Irren Schritt's ein Weib hervor,
Zart gebaut in dünnem Kleide,
Aber fruchtbeschwerten Leibes.
Zitternd und mit nassen Fingern
Las sie nasses Laub und Reisig;
Mühsam sich zur Erde bückend,
Raffte sie ein zaghaft Büschel.
Und der Brombeer' wirre Schlingen
Hingen sich an ihre Füße,
Daß sie strauchelt und das Weinen
Hing an ihren Augenwimpern.
Kam ein zweites Weib gegangen,
Groß und stark und guter Hoffnung;
Schwere Hölzer auf dem Haupte,
Schritt sie aufrecht her und trotzig.
Doch ein prächtiges Festgeläute
Ueberklang das mächt'ge Rauschen,
Und im Glanze der blitzenden Sonne
Lag im Tal eine strahlende Stadt;
Lang hinwallende Bürgerzüge
Sah man schimmernd sich drin bewegen,
Ihnen wehte die fliegende Seide
Reich gebildeter Banner voran.
Herrlich wogte der Wind aus Norden,
Und die Glocken erschollen mit Macht;
Da ertönten auch starke Posaunen,
Helle Trompeten mit schwellender Pracht.
Und die singende Menschenstimme
Deutlich man dazwischen vernahm,
Seltsam, neu und herzerschütternd
Wie der seliggewordene Gram.
"Freude, schöner Götterfunken!"
Hallte herüber der klingende Sturm,
War kein Kirchenlied und kein Kriegslied,
Doch die Glocken schallten vom Turm.
Horchend standen die armen Frauen,
Und die Lacherin wurde still
Und sie sprach: "Wer doch nur wüßte,
Was das alles bedeuten will?
"Einer rief, den zutale laufen
Ich mit hastigen Schritten sah,
Daß die schönere und die größere,
Ja die bessere Zeit sei nah!
"Aber komm, du zage Klagende,
Was es immer bedeuten mag,
Feiern wir in meiner Hütte
Diesen unbekannten Tag!
"Bringe die weinenden, deine Kleinen
Zu den meinigen schnell zur Stell';
Wir entfachen ein lustiges Feuer,
Schaffen die Welt uns warm und hell!
Neuen Most hab' ich im Hause,
Nüsse für die junge Brut;
Und beim frohen Mütterschmause
Fassen wir einen guten Mut!"
So genossen sie unwissend
Jenes Tages Silberblick;
Mit am warmen Feuer ruhte
Still ein künftiges Geschick.
Seine unsichtbaren Hüter
Lehnten am Standartenschaft
In den goldnen Wappenröcken:
Das Gewissen und die Kraft.
Gottfried
Keller . 1819 - 1890
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