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Gedichte, Lyrik, Poesie

Gesammelte Gedichte
162 Bücher



Gottfried Keller
Gesammelte Gedichte . 3. Auflage 1888



Panard und Galet

I.

Sie kamen von der Tränke,
Sie wankten aus der Schenke
Mit einer Zecherschar,
Als es Charfreitag Morgen
Und grabesstille war.

Von heißen Stirnen nicken
Und stäuben die Perrücken
Wie Wolke birgt den Blitz;
Die spitze Kling' am Degen
Zuckt wie geschliffner Witz.

Sie taumelten und sangen,
Vom Mund wie Stöpsel sprangen
Die Verse, Schlag auf Schlag;
Da schrie Panard: O fühlet
Den furchtbar großen Tag!

Das Universum trauert,
Die dunkle Sonne schauert,
Die Erde wankt und bebt,
Daß unter unsern Füßen
Der hohle Boden schwebt!

Unsicher ist's, zu stehen,
Und ratsam nicht, zu gehen!
Kehrt um zu uns'rem Wirt! -
Und alsbald kroch die Herde
Zurück zu ihrem Hirt.

Dort blieben sie verborgen
Bis an den dritten Morgen
Tief und geheimnißvoll,
Bis in der goldnen Frühe
Die Osterglocke scholl.

Als die verjüngte Sonne
In Auferstehungswonne
Durchschritt des Frühlings Tor,
Da stiegen aus der Höhle
Weinselig sie hervor.


II.

Auf seinem Bette liegt Galet,
Weglachend seines Todes Weh.

Er schickt Panard den Morgengruß,
Sechs neue Lieder zum Genuß.

"Erst wollt' ich reimen, liebes Kind!
So viele, als Apostel sind.

"Doch hab' ich's nur auf sechs gebracht,
Weil schon der Totengräber wacht.

"Der Totengräber an der Tür
Mit seinem Spaten lauscht herfür.

"Der hackt mich mit den andern sechs
Bald unter grünes Grasgewächs.

"Leb' wohl, mich dünkt, nun muß es sein,
Der beste Reim ist Rhein und Wein!


III.

Es klagt Panard: Habt ihr gesehn
Die Stätte, wo er ruht?
So könnt ihr meinen Schmerz verstehn
Und meines Herzens Wut!

Der keiner Quelle, noch so rein,
Bei'm größten Durst genaht,
Ihn, dem kein schnödes Wässerlein
Die Lippe je betrat,

Ihn haben sie nun hingelegt,
Wo graus vom Turm herab
Die Traufe ihm zu Häupten schlägt
Und plätschert auf dem Grab!

Ich selbst bin nun ein Wasserfaß,
Dran keine Daube schließt,
Da stets ein unglückselig Naß
Mir aus den Augen schießt.

Es regnet meiner Tränen Fluß
Wie toll zu jeder Stund',
Daß mit der Hand ich decken muß
Das Glas an meinem Mund!

Die süße Traube sank zur Ruh'
Vom Stocke, der ich bin;
O Winzer Tod, nun schneide Du
Mich selber bald dahin!


  Gottfried Keller . 1819 - 1890






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