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Gedichte, Lyrik, Poesie

Erste Gedichte
162 Bücher



Rainer Maria Rilke
Erste Gedichte . 1. Auflage 1913



Rabbi Löw

Weiser Rabbi, hoher Liva, hilf uns aus dem
                        Bann der Not;
heut gibt uns Jehova Kinder, morgen raubt sie uns
                         der Tod.
Schon faßt Beth Chaim nicht die Scharen, und
                        kaum hat der Leichenwart
eins bestattet, nahen andre Tote; Rabbi, das
                        ist hart."
Und der Rabbi: "Geht und schickt mir einen
                        Bocher rasch herein." -
So geschiehts: ""Wagst du nach Beth Chaim diese
                        Nacht dich ganz allein?"
"Du befiehlst es, weiser Meister?" "Gut, so hör,
                        um Mitternacht
tanzen all die Kindergeister auf den grauen
                        Steinen sacht.
Birg dich dorten im Gebete, und wenn Furcht dein
                        Herz beklemmt,
Streif sie ab: Du raubst dem nächsten Kinde kühn
                        sein Leichenhemd,
raubst es, - bringst es her im Fluge, her zu mir!
                        Begreifst du wohl?"
"Wie du heißest tun mich, Meister, tu ich!" klingt
                        die Antwort hohl.

Mitternacht und Mondgegleiße, -
... und es stürzt der totenblasse
Bocher bebend durch die Gasse,
in der Hand das Hemd, das weiße.

Da jetzt .. sind das seine Schritte? ...
Jach kehrt er zurück das bleiche
Antlitz: weh, die Kindesleiche,
folgt ihm nach, im Aug die Bitte:

"... Gib das Linnen, ohne Linnen
lassen mich nicht ein die Geister ..."
Und der Bocher, halb von Sinnen,
reicht es endlich seinem Meister.

Und schon naht der Geist mit Klagen ...
"Sag, was sterben hundert binnen
Tagen? - Kind, du mußt es sagen,
früher darfst du nicht von hinnen."

So der Rabbi. - "Wehe, wehe,"
ruft der Geist, "aus unserm Stamme
haben zwei entehrt der Ehe
keusche, reine Altarflamme!

Hier die Namen! - Sucht nicht fremde
Ursach, daß euch Tod beschieden ..."
Und der Rabbi reicht das Hemde
jetzt dem Kinde: "Zieh in Frieden!"

Kaum, daß aus dem Nachtkelch maijung
stieg der Tag in rosgem Licht,
hielt der Rabbi schon Gericht, -
und der Unschuld ward Befreiung.

Mit der Geißel des Gesetzes
brandmarkt er die Sünderstirn; -
langsam löste jedes Hirn
ich vom Bann des Fluchgenetzes.

Manches Paar war da erschienen,
dankerfüllt, daß Gott verzieh,
und der Weise segnet sie. -
Freude lag auf aller Mienen.

Nur der Bocher warf, der bleiche,
sich im Fieber hin und her ...
Doch nach Beth Chaim lange mehr
trug man keine Kindesleiche.


  Rainer Maria Rilke . 1875 - 1926






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