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Johann Wolfgang von Goethe
Gedichte . 1825



Adler und Taube

Ein Adlersjüngling hob die Flügel
Nach Raub aus;
Ihn traf des Jägers Pfeil und schnitt
Der rechten Schwinge Sennkraft ab.
Er stürzt' hinab in einen Myrtenhain,
Fraß seinen Schmerz drei Tage lang,
Und zuckt' an Qual
Drei lange, lange Nächte lang:
Zuletzt heilt ihn
Allgegenwärt'ger Balsam
Allheilender Natur.
Er schleicht aus dem Gebüsch hervor
Und reckt die Flügel - ach!
Die Schwingkraft weggeschnitten -
Hebt sich mühsam kaum
Am Boden weg
Unwürd'gem Raubbedürfniß nach,
Und ruht tieftrauernd
Auf dem niedern Fels am Bach;
Er blickt zur Eich' hinauf,
Hinauf zum Himmel,
Und eine Thräne füllt sein hohes Aug'.

Da kommt muthwillig durch die Myrtenäste
Daher gerauscht ein Taubenpaar,
Läßt sich herab, und wandelt nickend
Ueber gold'nen Sand und Bach,
Und ruckt einander an;
Ihr röthlich Auge buhlt umher,
Erblickt den Innigtrauernden.
Der Tauber schwingt neugiergesellig sich
Zum nahen Busch, und blickt
Mit Selbstgefälligkeit ihn freundlich an.
Du trauerst, liebelt er,
Sey guten Muthes, Freund!
Hast du zur ruhigen Glückseligkeit
Nicht alles hier?
Kannst du dich nicht des gold'nen Zweiges freun,
Der vor des Tages Gluth dich schützt?
Kannst du der Abendsonne Schein
Auf weichem Moos am Bache nicht
Die Brust entgegen heben?
Du wandelst durch der Blumen frischen Thau,
Pflückst aus dem Ueberfluß
Des Waldgebüsches dir
Geleg'ne Speise, letzest
Den leichten Durst am Silberquell, -
O Freund, das wahre Glück
Ist die Genügsamkeit,
Und die Genügsamkeit
Hat überall genug.
O Weise! sprach der Adler, und tief ernst
Versinkt er tiefer in sich selbst,
O Weisheit! Du redst wie eine Taube!


  Johann Wolfgang von Goethe . 1749 - 1832






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