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Johann Wolfgang von Goethe
Gedichte . 1825



Der Wanderer

    Wanderer.
Gott segne dich, junge Frau,
Und den säugenden Knaben
An deiner Brust!
Laß mich an der Felsenwand hier,
In des Ulmbaums Schatten,
Meine Bürde werfen,
Neben dir ausruhn.

    Frau.
Welch Gewerb treibt dich
Durch des Tages Hitze
Den staubigen Pfad her?
Bringst du Waaren aus der Stadt
Im Land herum?
Lächelst, Fremdling,
Ueber meine Frage?

    Wanderer.
Keine Waaren bring' ich aus der Stadt,
Kühl wird nun' der Abend.
Zeige mir den Brunnen,
Draus du trinkest,
Liebes junges Weib!

    Frau.
Hier den Felsenpfad hinauf.
Geh voran! Durchs Gebüsche
Geht der Pfad nach der Hütte,
Drin ich wohne,
Zu dem Brunnen,
Den ich trinke.

    Wanderer.
Spuren ordnender Menschenhand
Zwischen dem Gesträuch!
Diese Steine hast du nicht gefügt,
Reich hinstreuende Natur!

    Frau.
Weiter hinauf!

    Wanderer.
Von dem Moos gedeckt ein Architrav!
Ich erkenne dich, bildender Geist!
Hast dein Siegel in den Stein geprägt!

    Frau.
Weiter, Fremdling!

    Wanderer.
Eine Inschrift, über die ich trete!
Nicht zu lesen!
Weggewandelt seyd ihr,
Tief gegrabne Worte,
Die ihr eures Meisters Andacht
Tausend Enkeln zeigen solltet.

    Frau.
Staunest, Fremdling,
Diese Stein' an?
Droben sind der Steine viel
Um meine Hütte.

    Wanderer.
Droben?

    Frau.
Gleich zur Linken.
Durchs Gebüsch hinan;
Hier.

    Wanderer.
Ihr Musen und Grazien!

    Frau.
Das ist meine Hütte.

    Wanderer.
Eines Tempels Trümmern!

    Frau.
Hier zur Seit' hinab
Quillt der Brunnen,
Den ich trinke.

    Wanderer.
Glühend webst du
Ueber deinem Grabe,
Genius! Ueber dir
Ist zusammen gestürzt
Dein Meisterstück,
O du Unsterblicher!

    Frau.
Wart', ich hohle das Gefäß
Dir zum Trinken.

    Wanderer.
Epheu hat deine schlanke
Götterbildung umkleidet.
Wie du empor strebst
Aus dem Schutte,
Säulenpaar!
Und du einsame Schwester dort,
Wie ihr,
Düstres Moos auf dem heiligen Haupt,
Majestätisch trauernd herab schaut
Auf die zertrümmerten
Zu euern Füßen,
Eure Geschwister!
In des Brombeergesträuches Schatten
Deckt sie Schutt und Erde,
Und hohes Gras wankt drüber hin!
Schätzest du so, Natur,
Deines Meisterstücks Meisterstück?
Unempfindlich zertrümmerst du
Dein Heiligthum?
Säest Disteln drein?

    Frau.
Wie der Knabe schläft!
Willst du in der Hütte ruhn,
Fremdling? Willst du hier
Lieber in dem Freien bleiben?
Es ist kühl! Nimm den Knaben,
Daß ich Wasser schöpfen gehe.
Schlafe, Lieber! schlaf'!

    Wanderer.
Süß ist deine Ruh'!
Wie's, in himmlischer Gesundheit
Schwimmend, ruhig athmet!
Du, geboren über Resten
Heiliger Vergangenheit,
Ruh' ihr Geist auf dir!
Welchen der umschwebt,
Wird in Götterselbstgefühl
Jedes Tags genießen.
Voller Keim blüh' auf,
Des glänzenden Frühlings
Herrlicher Schmuck,
Und leuchte vor deinen Gesellen!
Und welkt die Blüthenhülle weg,
Dann steig' aus deinem Busen
Die volle Frucht,
Und reife der Sonn' entgegen.

    Frau.
Gesegne's Gott! - und schläft er noch?
Ich habe nichts zum frischen Trunk,
Als ein Stück Brod, das ich dir bieten kann.

    Wanderer.
Ich danke dir.
Wie herrlich alles blüht umher
Und grünt!

    Frau.
Mein Mann wird bald
Nach Hause seyn
Vom Feld. O bleibe, bleibe, Mann!
Und iß mit uns das Abendbrod!

    Wanderer.
Ihr wohnet hier?

    Frau.
Da, zwischen dem Gemäuer her.
Die Hütte baute noch mein Vater
Aus Ziegeln und des Schuttes Steinen.
Hier wohnen wir.
Er gab mich einem Ackersmann,
Und starb in unsern Armen. -
Hast du geschlafen, liebes Herz?
Wie er munter ist, und spielen will!
Du Schelm!

    Wanderer.
Natur! du ewig keimende,
Schaffst jeden zum Genuß des Lebens,
Hast deine Kinder alle mütterlich
Mit Erbtheil ausgestattet, einer Hütte.
Hoch baut die Schwalb' an das Gesims,
Unfühlend, welchen Zierrath
Sie verklebt.
Die Raup' umspinnt den goldnen Zweig
Zum Winterhaus für ihre Brut;
Und du flickst zwischen der Vergangenheit
Erhabne Trümmer
Für deine Bedürfniss'
Eine Hütte, o Mensch,
Genießest über Gräbern! -
Leb' wohl, du glücklich Weib!

    Frau.
Du willst nicht bleiben?

    Wanderer.
Gott erhalt' euch,
Segn' euern Knaben!

    Frau.
Glück auf den Weg!

    Wanderer.
Wohin führt mich der Pfad
Dort über'n Berg?

    Frau.
Nach Cuma.

    Wanderer.
Wie weit ist's hin?

    Frau.
Drei Meilen gut.

    Wanderer.
Leb' wohl!
O leite meinen Gang, Natur!
Den Fremdlings-Reisetritt,
Den über Gräber
Heiliger Vergangenheit
Ich wandle.
Leit' ihn zum Schutzort,
Vor'm Nord gedeckt,
Und wo dem Mittagsstrahl
Ein Pappelwäldchen wehrt.
Und kehr' ich dann
Am Abend heim
Zur Hütte,
Vergoldet vom letzten Sonnenstrahl;
Laß mich empfangen solch ein Weib,
Den Knaben auf dem Arm!


  Johann Wolfgang von Goethe . 1749 - 1832






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