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Hugo Salus
Ernte
. 1. Auflage 1903
Der Paradiesvogel
"Sag, Onkel, sag, wie machst du denn solche Gedichte?" -
"Ja, Kinder, das ist keine so einfache Geschichte!
Wißt ihr, wenn es ganz still ist und niemand mich stört,
So still, daß man die Sonnenstäubchen fallen hört,
Da klopft es ans Fenster, eins, zwei, drei:
Der Paradiesvogel ist da! Er bringt dir ein Ei.
Da öffn' ich das Fenster, da fliegt er herein,
Seine Federn sind heller als Sonnenschein
Und leuchten in lachenden, hellen und zarten,
Bunten Farben wie Blumen im Frühlingsgarten.
Und ich, ich mach' einen Knix, meiner six, bis auf die Erde.
Dann setzt sich der Vogel mit edler Gebärde
Vor mich auf den Tisch und, eins, zwei, drei,
Legt er auf mein Tintenfaß ein goldenes Ei.
Ja, wirklich, ein goldenes Ei! Kein Scherz!
Das nehm' ich und leg' es noch warm an mein Herz,
Und leg' es ans Herz und wärm' es zwei Wochen.
Und eines Tags ist ein kleines Vöglein ausgekrochen.
Das öffnet den goldenen Schnabel und singt
Und singt, daß das ganze Zimmer klingt.
Und was es singt, das schreib ich einfach hier nieder.
Seht ihr, Kinder, so mach ich die Lieder!"
"Ja, Onkel, aber wie schaut denn der Vogel aus?
Wie unser Kanarienvogel zu Haus?
Oder größer, wie ein Adler oder wie ein Storch?"
"Ja, Kinder, wie ein bunter Storch! Aber, horch,
Habt ihr denn nicht jetzt das Klopfen vernommen?
Eins, zwei, drei? Der Paradiesvogel will kommen!
Jetzt nur rasch fort. Schaut euch nicht um! Still, still.
Wer weiß, ob er nicht für euch ein Märchen bringen will!"
Hugo
Salus . 1866 - 1929
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