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Hugo Salus
Ernte
. 1. Auflage 1903
Michelangelo
Vor einem Marmorblock in tiefer Nacht
Senkt Michelangelo die müde Hand,
Die göttliche, die Leben wecken kann,
Und die der Hammer heut zu Boden zieht.
Er wirft den Meißel fort, er senkt die Stirn;
Er seufzt; ihn fröstelt, denn die Nacht ist kalt.
"Kalt wie mein greises Herz, kalt, kalt und leer!"
Er blickt um sich. Die Steine höhnen: "Schutt!
Was war dein Leben? Plag und Meißelschlag
Und keine Sonne lachte deinem Weg.
Was starrst du, wie ein Nachtgespenst, auf uns?
So lache doch! Wie hell lacht Raffael,
Der Sonne ist und Licht und Glück und Leben!"
Und Angelo stöhnt auf: "Weh, Raffael!
Weh, Raffael, der mich den Neid gelehrt,
Den Bettlerneid vor Krösus üppiger Schwelle!
Du großer Michelangelo, so klein,
So niedrig, so verzerrt von Neid! Weh dir,
Daß du so groß bist, um so klein zu sein!
Wie stahlst du dich noch gestern, neidgehetzt,
Aus Raffaels Garten! Bäume, Blumen, Frauen,
Die Männer rings, der Papst, wer sträubte sich
Und neigte sich nicht vor dem Göttlichen?
Er nahm es hin, als freudigen Tribut,
Und dankte kaum und senkte nur das Haupt
Vor Einem in der Runde, nur vor dir!
Da, weißt du's? stieg der Neid dir auf im Herzen,
Die Eifersucht, der finstre Groll, die Scham,
Ohnmächtiger Neid! und knirschend schlichst du fort!
Pfui, Michelangelo!" - Der Meister bebt;
Er löscht das Licht. Er brütet in die Nacht.
"Nein", fährt er auf, "so niedrig bin ich nicht!
Daß doch der Morgen tagte! Raffael,
Zu deinen Füßen will ich Mitleid flehen:
Du bist der Sieger!"
Schritte, leise Stimmen.
Die Türe weicht. - "Was willst du noch, Antonio?
Was schläfst du nicht?"
"O Herr, wer schliefe heut?
Seid stark! Beherrscht euch! Hört das Furchtbare:
Sitzt nieder. Faßt euch!
Raffael ist tot!"
Hugo
Salus . 1866 - 1929
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