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Hugo Salus
Glockenklang
. 1. Auflage 1911
Die Denkerstirn
Tief in die Nacht saß Kant noch grübelnd wach
Und sann den Rätseln allen Wesens nach.
Vor seinem unbefriedigt regen Hirn
Wölbt sich, zerfurcht von Falten, hoch die Stirn,
Die Stirn des Denkers.
So beim Lampenschein,
Vom Schlaf bewältigt, nickt der Weise ein.
Noch sinnt die Stirn; da hat mit sanften Strichen
Der Schlaf der Stirne Furchen ausgeglichen.
Und nun, da glatt die Stirn sich tiefer senkt,
Ist's noch das Denkerhirn, das Träume denkt?
Träume so lieblich, wie nur je ein Kind
Sie an dem Webstuhl seiner Wünsche spinnt:
Maiblumen regnen bunt zur Erde nieder,
Die Luft ist voll von Rosenduft und Flieder,
Und Lämmlein weiden auf der Frühlingsflur,
Die ganze Welt ein Kinderspielzeug nur!
So saß der Weise, lächelnd noch im Schlaf,
Als ihn des Morgens erster Schimmer traf.
Er streicht die Stirn: "Wo bin ich nur gewesen?"
Die Falten tiefen sich.
"Nun will ich weiterlesen!"
Hugo
Salus . 1866 - 1929
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