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Hugo Salus
Glockenklang
. 1. Auflage 1911
Die Welle
Ino Susuki fuhr als junger Maler
In seinem Fischerboot aufs Meer hinaus,
Ein handgroß Bild der Welle zu entwerfen,
Wie sie im Meer entsteht, sich hebt, verschäumt.
Nun ist er siebzig Jahre alt. Er steigt
Noch täglich in sein Fischerboot; er schaut
Die grünblauschwarze Flut des Meers; er staunt,
Wenn sanft die Woge schwillt und dunkler wird,
Mit Silbertupfen sich besprenkelt, schäumt,
Ein glasiger Wall wird, der sich überschlägt
Und an der eignen Glätte niedergleitet,
Indes noch traumhaft fast, ein Schatten nur,
Die nächste Welle sich zu falten anhebt.
Nun ist er siebzig Jahr. Er sah das Meer
Im Morgengrau, im Sturm, bei blauem Himmel,
Beim Sonnenabschied, wenn sie goldne Funken
Herniederstreut, sah grünblauweiß die Flut,
Wie Gletschereis, wenn sie ein Schiff durchwühlt,
Und malt noch immer an dem gleichen Bildchen,
Groß wie die Hand, und glaubte gestern noch,
Jetzt sei's vollendet! Aber heute nacht -
Er schläft schon schlecht und wird bald sehr tief schlafen -,
Da überfiel es ihn: die Wellen draußen,
Weit draußen auf der See, viel weiter draußen,
Als ihn sein Schifflein trug, wie sind die Wellen?
Sind sie so grünblauschwarz wie nah dem Strande?
Ist dort sein Bild noch wahr? Ist's nun vollendet?
Und morgen früh, o, daß schon morgen wäre!,
Will er noch einmal weit, weit auf das Meer,
Ob dort die Flut so schäumt, wie nah dem Strande...
Hugo
Salus . 1866 - 1929
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