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Hugo Salus
Neue
Garben . 1. Auflage 1904
Der freie Psalm
Auf eine ragende Höhe, dem Himmel nah,
Daß ich fast wie ein Gott die Erde da drunten sah,
Riß mich ein klarer Traum, ein Schöpfer und Deuter, empor.
Da brauste empor an mein Ohr der Menschheit Chor:
"Dunkel sind die Wege der Erde.
Wir hungern und frieren.
Wer sorgt, daß es lichter werde,
Daß wir uns nicht im Nebel verlieren?
Ihr Großen der Erde, die wir erküren,
Führt eure Herde!"
Auf meiner ragenden Höhe, dem Himmel nah,
Fast wie ein Gott klaräugig ward ich da,
Daß ich die Menschen drunten sich rotten sah
Mit lodernden Armen: "Ihr Starken, Erbarmen, habt Erbarmen!"
Und da sah mein Blick vor den Herden Führer erstehn:
"Ihr habt hierher, ihr dorthin und dorthin zugehn!
Und daß ihr die rechten Wege findet durchs Leben,
Wollen wir euch hier diese Wanderstäbe geben!
Hier hast du deinen Stab und du und du!
Und nun wandert an euren Stäben dem Ziele zu.
Wir Starken haben die Stäbe für euch bereitet.
Unser Wille ist euer Gebot! Er ist's, der euch leitet!"
Und nun sah ich die Menschen drunten an ihren Stäben keuchen,
Auf allen Wegen, dem Dunkel entgegen, ihr Ziel zu erreichen ...
Und wieder empor an mein Ohr hört' ich der Menschheit Chor:
"Nun gehn wir an unseren Stäben durchs Leben,
Doch unsre Herzen beben.
Wer kann unseren Seelen die Ruhe geben?
Die Erde ist dunkel.
Doch dort droben über den Wolken, was ist dort droben für ein Gefunkel?
Wer wohnt dort oben? Sollen wir ihn fürchten oder loben?
Wer wohnt dort oben in den ewigen Fernen über den Sternen?"
Und wieder sah ich von meiner Höh' vor den Menschen Führer erstehn:
"Ihr habt hierher, ihr dorthin und dorthin zu gehn!
Und daß ihr die rechten Wege findet durchs Leben,
Sollt ihr uns erst eure festen Wanderstäbe geben!"
Und sie nahmen die Stäbe und schnitten Zeichen und Runen hinein:
"Wir wollen euch weihn, ihr Stäbe,
Ihr sollt geweiht und geheiligt sein!
An euch, nur an euch wandern die Guten ins Leben hinein!
Dort drüben die andern können nimmer ihre Stäbe so göttlich weihn!"
Und nun sah ich die Menschen an ihren geweihten Stäben durchs Leben keuchen,
Auf allen Wegen, dem Dunkel entgegen, ihr Ziel zu erreichen,
Und dort als ärmliches Siegeszeichen, wie Lanzen, ihre Stäbe auf Gräber pflanzen.
Und da, wie ich hoch oben, dem Himmel nah,
Fast wie ein Gott, da drunten der Menschen Gewimmel sah,
Da dehnte unendliches Leid und doch, auf meiner freien Höhe, unendliche Lust meine Brust,
Und ich nahm meinen Stab,
Den mir einst vor dem Wandern ein Bruder gab,
Und wie Thonar, der Gott, schleudert' ich ihn auf die Erde hinab,
Vielleicht auf mein Grab ...
Ich aber will nie mehr hinab, nie mehr hinab ins dunkle Leben!
Ich will ohne Stab, ohne geweihten Bettelstab mein Grab erstreben ...
Hugo
Salus . 1866 - 1929
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