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Hugo Salus
Neue
Garben . 1. Auflage 1904
Gräberfrühling
Im Herbst und Winter hatten wir sein Kind
Oft auf den Friedhof mitgenommen. Ach,
Wir sprachen fremde, unverstandne Worte,
Wenn wir ihm sagten: "Hier in diesem Garten,
Hier unter deinen Füßchen schläft dein Vater!" -
Dreijähriges Leben weiß noch nichts vom Tode!
Sie sah nur in dem Spiegel unsrer Tränen,
Daß dieser Ort ein Ort der Trauer sei.
"Wo sind wir, Lotte?" - Und die Kinderlippen,
Voll Stolz und Wissensglück: "Auf Vaters Friedhof!"
Nun heut', da junger Sonnenschein die Welt
Mit Licht und Seligkeit und Jubel füllt -
Ach, wer war würdiger des Sonnenlichts
Als er, dem dieser Frühling nimmer lacht
Und der nicht einmal dieser Veilchen Schönheit
Genießen kann, und er genoß so freudig! -
"Wo sind wir, Lotte?" - fragen wir das Kind.
Und sie, sie schaut sich in dem Garten um,
Und ihre Augen sind zwei helle Sonnen,
Sie flattert wie ein Englein mit den Flügeln,
Und, ganz vergessend, daß der Vater schläft,
Als könnt' ihr Jubel ihn erwecken, ruft sie:
"Im Frühling sind wir!"
Gott, wer weiß, von wem
Das Kind das schöne Wort "im Frühling" hörte,
Und doch, "im Frühling sind wir" sagt das Kind,
Und sagt's am Grabe ihres jungen Vaters,
Und ich, ich küsse sie voll Dankbarkeit,
Und heute geh' ich heiter fast vom Friedhof
Mit einem Frühling, Auferstehungsfrühling
In meiner Brust und gläubig, wundergläubig,
Und fromm und gut und reiner, als ich war...
Hugo
Salus . 1866 - 1929
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