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Hugo Salus
Neue
Gedichte . 1. Auflage 1899
Die Blinde Schwester
"Schwester, meine Augen starren
Lichtlos in die dunkle Welt,
Und sie hoffen und sie harren,
Ob sie noch ein Strahl erhellt;
Harren auf der Sterne Funkeln,
Auf das Licht: doch grau und leer
Ist die Welt, und in den dunkeln
Nebel starr ich um mich her.
Aber heute klangen Laute
Einer Stimme an mein Ohr,
Wie ich also süß vertraute
Töne nie gehört zuvor,
Hell und voll, gleich Orgeltönen,
Lieb und edel, rein und klar,
Mit dem Schicksal zu versöhnen
Eine, die verloren war.
Und ich hörte ihn. Da war es,
Glaube mir, als könnt' ich sehn:
In der Fülle blonden Haares
Sah ich neben mir ihn stehn.
Seine großen Augen schauten
Mich mit holden Blicken an;
Meine Lider übertauten,
Und ich fing zu weinen an."
Und sie schweigt. Die Schwester lauschte,
Tief errötend, da sie sprach,
Und der Liebesengel rauschte
Durch das schweigende Gemach.
Plötzlich wirft sie auf die Kniee
Vor der blinden Schwester sich,
Schluchzend: "Hab Erbarmen, siehe,
Schwester, diesen liebe ich!"
Hugo
Salus . 1866 - 1929
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