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Singsangbuch
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Max Dauthendey
Singsangbuch . 1. Auflage 1907



Die junge Königin
Betrachtet ihre gleißen Schuh.
Sie geht mit Unruh durch die Säle
Mit weißen Wangen den langen Tag,
Und nichts vermag sie zu versöhnen.
Ihr Leben scheint ihr schon vergangen,
Ihr Lächeln und der Jugend Verlangen.
Hofdamen und Hofherrn gehen
Im Schweigen ihr nach,
Durch alle Türen die offen stehen.
Auf glatten Dielen spüren
Sie Windhauch von Schatten
Unsichtbaren Reigen.
Im Dielenholze ertönen von Geigen seufzende Weisen,
Von leisen Geigen, die Keiner sieht,
Die wie unter Schmerzen aufstöhnen.

Nachts gucken die Lichter der Kerzen und des Mondes zu
Wie Gesichter die zucken.
Die junge Königin geht aber ohne Ruh,
Bis ihre Augen einmal Alain trafen,
Des Hofes Dichter im blauen Mondschein eingeschlafen am Altan.
Die Königin sieht nicht, daß gar nicht schön, fast häßlich der Sängersmann.
Die Königin stund und beugt sich und küßt des Schlafenden Mund.
Und das Gefolge sieht's mit an, entsetzt.
Keiner sich ihr Gelüste erklären kann.
"Ich küßte den Mund der mir wohlgetan,
Mit schönsten Worten, mit tugendhaften, klug erkoren,
Kein Mund in meinem Königreich

Tats diesem schlafenden Munde gleich.
Doch wer eines Dichters Seele küßt, der stirbt daran.
Schaudernd fühlt sich Unsterblichkeit für sterbliche und tötlich an.
Wie häßlich Herrn und Damen Euer Lächeln ist!
Mein Leben, ach Gottlob, daß Du nur sterblich bist!"
Die junge, junge Königin
Sie spricht es hin.
Starb und lag lächelnd bleich,
Und tot schien sie die Glücklichste im Königreich.


  Max Dauthendey . 1867 - 1918






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Die junge Königin, Max Dauthendey