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Christian Morgenstern
Einkehr
. 1. Auflage 1910
An eine unbekannte Schauspielerin nach einem Operettenabend
Du siehst jetzt auch vielleicht auf deine Decke,
Darunter sich dein schlanker Körper zeichnet,
Und sinnst dem Rätsel deines Lebens nach ...
Das wilde, wüste, aufgejagte Treiben
Des Abends fiel zusammen wie ein Schaum,
Von dem das Meer zurücktrat stumm und tot.
Die Maske liegt, der taube Trödel liegt
Verachtet irgendwo, das Auge lächelt
Nicht fürder; jener tiefe Leidenszug,
Der abends schon dein Lächeln abgelöst,
Beherrscht, verdunkelt nun dein Antlitz ganz.
Du bist von denen, Kind, die nicht die Lust
Erregter Augenblicke sättigt, du willst mehr.
Ich fühle, wie so sehr noch Kind du bist,
Bereit, so sehr zu lieben noch, zu trau'n,
Und doch erfahren schon bis übers Mass
Im Weh der Welt... Wie blickst du seltsam starr;
Wie adelte dich Sorge schon so früh;
Dass du mit mir in dieser Mitternacht
Im selben einsam grossen Sinnen wachst
Und deine edeln schmalen Glieder sich
Abzeichnen siehst im Linnen, das sie deckt,
Und fremd zugleich und zärtlich sie betrachtest,
Dies hingestreckte Dich, das so viel lacht
Und so viel weint und noch vor kurzer Frist
Vor andern Menschen tanzte, spielte, sang -
Dies dunkle Dich, das, dunklem Falter gleich,
Der Flamme zu mit jedem Nerv sich sehnt,
Dass es als Psyche, wie ein Hauch entschauernd,
An Eros Brust auf ewig schliefe ein.
Christian
Morgenstern . 1871 - 1914
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