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Christian Morgenstern
Einkehr
. 1. Auflage 1910
Briefe
I.
Warum versankst du mir so ganz?
Ein Stein auf irgend eines Flusses Grund,
Tief unter Wellentanz und -glanz,
Ist mir nicht stummer als dein Mund.
Geh hin zum nächsten FIuss, geh hin,
Und blick hinab, und siehst du einen Stein,
So grüss dein dunkles Brüderlein
Und sag ihm traurig, wer ich bin.
Nein, sag ihm fröhlich, wer ich war!
Ein Freund, mit dem du einst Ein Herz und Sinn.
Nein, sag ihm traurig, wer ich bin:
Ein Freund, nun aller Freundschaft bar.
II.
Oh, ich weiss wohl, was noch fehlt.
Doch, o glaubt, der Tag wird kommen,
Wo mir gleich dem frömmsten Frommen
Jede Silbe sich beseelt!
Wo die Härte und die Kühle
So in Wärme schmilzt und taut,
Dass ihr fühlt, was ich geschaut,
Nicht nur schauet, was ich fühle.
III.
Ich glaube nicht an Ungerechtigkeit,
Ich glaube, was geschieht, geschieht mit Recht;
Wir sehn nur nicht ins fiebernde Geflecht
Der unaufhörlich fortgewobnen Zeit.
Die Mär vom blinden Wandel der Natur
Bedünkt mich schal; dies Wandeln ist nicht blind.
Es fasst sich selbst ins Aug' im Menschenkind
Und prüft sich Schritt vor Schritt in Wald und Flur.
Ein Blindes geht im Grund wohl seinen Trott,
Doch ewig formt sein Geist es um und um.
Natur ist weder roh noch kalt noch dumm
Noch ungerecht, Natur ist In-Sich-Gott.
IV.
Sag' nicht: dies ist nicht vorzustellen,
Nicht auszudenken! Eines Tages
Erscheint ein Mensch bestimmten Schlages
Und steigt hinunter zu den Quellen.
Und trägt vom Urborn der Natur
Zwei Hände voll ins lichte Leben.
Und als Erfahrung bleibt gegeben,
Was Vorzeit nur als Traum erfuhr.
Und wie sie kommen all und trinken,
Verwandelt Sinn sich und Gesicht:
Wie Schleier scheint's hinwegzusinken,
Und Dunkelstes wird seltsam licht.
V.
In die Berge sehnst du dich,
An das Meer, -
Und der Berg des Himmels
Mit seinen steilblauen Wänden:
Ragt er nicht ewig
Vor dir auf?
In die Berge sehnst du dich,
An das Meer, -
Und das Meer des Himmels
Mit seinem tiefblauen Spiegel:
Wogt es nicht ewig
Vor dir hin?
Wie ein Knabe
Träumst du von Bergen,
Träumst du von Meeren ..
So wirf den Nacken doch zurück
Und habe mehr denn Berg und Meer -
Hab' - Ewigkeit!
Christian
Morgenstern . 1871 - 1914
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