Das Sintho-Buch

Da trag' ich fünfzehn Jahre nun ein Augenglas
Mit schmalem goldnen Rand, das eine Frau,
Das eines Freundes Mutter mir geschenkt.
Es war vielleicht ihr eignes dermaleinst,
An einem dünnen Kettchen trug vielleicht
Ihr junger Hals das zierliche Gebild
Des Petersburger Goldschmieds - ja, wer weiss:
Durch diese feinen Reifen (denn die Gläser
Sind längst nicht mehr die alten) sah vielleicht
Ihr reines Aug' noch Ihn - Michajlowitsch -
Den Grossen - -! Und das trug ich nun
Gedankenlos drei Lustren ... Oh -
Was ist der Mensch! Des Rings, durch den er blickt,
Tagaus, tagein, durch den er sich der Welt,
Der sichtbaren, vermählt und sie sich ihm,
Vergisst er, achtet sein nicht; denkt nicht des,
Der ihn geformt, nicht ihrer, die ihn gab,
Nicht seiner, dessen Bild einst in ihm lag -
Wer weiss, als wie in einem Rähmchen ... bis -
Vor einem Buch, vor einem S i n t h o - Buch,
In einer Nacht dies alles ihm erscheint
Und ihn erschüttert, anklagt und betrübt ...


  Christian Morgenstern . 1871 - 1914

Expressionisten
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