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Christian Morgenstern
Melancholie
. 1. Auflage 1906
Fiesolaner Ritornelle
Oliven.
Erst wenn der Wind euch beugt und schaudern macht,
enthüllt ihr eure silbernen Tiefen.
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Cypressen.
Ihr lehrt mit nicht gemeinem Mass
die Dinge messen.
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Feigen.
So sinnlich sah ich keinen zweiten Baum
Unfassbares umzweigen.
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Käuzchenschreie.
Des Unglücks Bote ruft durch stille Nacht.
Wann kommt an uns die Reihe?
*
Mondnächte, klare.
In solchen Nächten stiehlt man nichts
denn Liebesware.
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Nachtschatten.
Erinnerst du dich, fernes Mädchen, noch,
wie lieb wir uns einst hatten?
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Judasbäume.
Dass ich vor euch nicht von verratner Liebe
träume!
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Verfrühter Falter.
Du flogst, verwegner Geist, der Zeit voraus;
noch dämmert erst dein Alter.
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Glänzende Dächer.
Im Mittagschleier ruht die Arnostadt,
ein edelsteinbesetzter Fächer.
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Zwölfuhr-Schuss.
Dem Aug' blitzt Mittag schon, indes das Ohr
sich noch im Vormittag gedulden muss.
*
Domglocke brummt:
Aus Höhn und Tiefen keine Antwort mehr:
Mein Gott, mein Mensch sind beide längst verstummt.
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Ihr sanften Hügelketten!
Umsonst versuch' ich in mein Buch zu schaun;
wer könnte sich vor Eurer Anmut retten!
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Eidechse.
Solang ich pfeife, hältst du still und horchst, -
doch greif ich zu, entwischst du, kleine Hexe.
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Amsel flötet, Biene summt,
Frühling jubelt über allem Leben ..
Mund des Glücks, du warst mir lang verstummt.
*
O Welt!
Wie gern genöss' ich als ein Schauspiel dich,
von halber Höh', nur locker dir gesellt.
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Von halber Höh' - ein Adel, der mir passt.
So lebt' ich immer, zwischen Tier und Gott,
halb Mensch, halb Vogel, zweier Reiche Gast.
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Glanzgrauer Tag.
Aus Deinem Taft soll man die Flagge machen,
darin man mich dereinst begraben mag.
*
Der Freund schreibt:
Des Herzens unverwandte Einsamkeit,
du fühlst sie auch - und wie sie nichts vertreibt.
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Mohn im Winde.
So neigen wir uns glühend geneinander, -
doch nie wird zwei zu eins - als einst im Kinde.
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Epheuranke.
So reich verkleidet Trümmer und Zerfall
nur Eins noch: der Gedanke.
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Die Fünfuhr-Glocke ruft durch bleiche Nacht:
Wer schläft, wach' auf, und wer da wacht, schlaf ein;
so hab' ich jedem, was ihm frommt, gebracht.
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Morgenhauch.
Aus Bett und Haustür ziehst du mich hinaus,
wie aus der Esse den verschlafnen Rauch.
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Giottos Grabschrift von Polizian.
Zwiefacher Hauch der Vorzeit traf uns voll,
als wir im Dom die stolzen Verse sahn.
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In meinem Burckhardt wühlt empört der Sturm:
So war es einst, so soll es wieder sein!
Das gafft nur, schafft nicht mehr um Giottos Turm.
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Kaum mehr erhoffte Tage!
Mit dreissig Jahren fand ich eine Stadt,
zu deren Bild ich ja und Amen sage.
Christian
Morgenstern . 1871 - 1914
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