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Gedichte, Lyrik, Poesie

Melancholie
162 Bücher



Christian Morgenstern
Melancholie . 1. Auflage 1906



Sprüche

(Henrik dem Dreizehnten.)

Ich riss des Herzens Furchen auf:
Da säten Wind und Sonnenschein
ihr Korn hinein;
da schoss es auf
aus rotem Grund
und wuchs mit zuckendem Purpurmund
zum Licht hinauf.

*

Alles Leben steht auf Messers Schneide.
Gleite aus und du ertrinkst in Leide.

*

Dulde, trage.
Bessere Tage
werden kommen.
Alles muss frommen
denen, die fest sind.
Herz, altes Kind,
dulde, trage.

*

Gib, gib und immer wieder gib der Welt,
und lass sie, was sie mag, dir wiedergeben;
tu alles für, erwarte nichts vom Leben, -
genug, gibt es sich selbst dir zum Entgelt.




Worte.

Worte sind wie Rettungsringe,
die dem Leben dienen;
auf den tiefen Grund der Dinge
kommst du schwer mit ihnen.




Wachsende Unsicherheit.

Ich geh' wie auf dem Meer in Dunkels Schoss,
ein jeder Schritt ist schwankend wie auf Tod ..
Doch immer wieder hält in höchster Not
den zagen Fuss ein unsichtbares Floss.




Lehre.

Was die Welt an Lehre mir gegeben,
willst du wissen?
Unser Bestes dürfen wir nicht leben,
weil wir ,leben müssen'.




In so vielem

Wie hat man oft im tiefsten Mark
gefühlt: nein, nein und aber nein!
Aber das Leben ist so stark,
es reisst einen immer wieder hinein.




Kein Brunnen ist so tief wie du;
und schöpfst du aus dich bis zum Grund,
so wird dir mehr vom Menschen kund,
als trüg' dich Ahasveri Schuh.




Dankbarkeit und Liebe.

Dankbarkeit und Liebe sind Geschwister.
Dankbarkeit ist Liebe, mild doch stet.
Wer ein Liebender durchs Leben geht,
auch ein Dankender für alles ist er.

*

O Freunde, liebt mich nicht,
niemals den, der ich bin;
doch was ich werden möchte,
das, das liebt an mir!

*

Ewiges Einerlei.

Was längst beantwortet ist
oder längst zu beantworten wäre,
das wird noch immer gefragt,
das frisst noch immer Gehirn.

*

Wer alles ernst nimmt, was Menschen sagen,
darf sich nicht über Menschen beklagen.
Alles Reden ist meist nur Gered.
Weiss man erst, was dahinter steht,
lässt man's klappern wie die Mühlen am Bach
und geht stillfein in sein eigen Gemach.




Verwunderung.

Hier stand einst eine Bank. Wer nahm sie fort?
Hier sass einmal ein Mensch. Wo ging er hin?
Was stehst du, fremder Mann, am fremden Ort ..
Verwunderlich, dass ich noch immer ,bin'.




Tragikomödie des Phantasten.

Ich schnelle meinen Zollstock mit der Hand -
und halbe Welt entwächst dem dürren Sparren.
Ich schnelle meinen Zollstock mit der Hand -
und Ihr, was seht ihr? Nichts plus einen Narren.
O Ihr, an so viel "letztem Wissen' Leidenden,
wie seid ihr oft instinktlos im Entscheidenden!

*

Die Sonne grübelt nicht, warum sie scheine.
Sie scheint. Ihr Leben, Künstler, sei das Deine.




Schule.

I.
Das Erste, was ich sah, war Heuchelei.
Ein Lehrer faltete die fetten Hände
und sprach ein weinerlich Gebet dabei.

II.
Und lieber Gott und aber lieber Gott.
Ich fühlte, fromm, mir Seligkeit verbrieft.
Dann kam der Sturz. Der wilde Schmerz und Spott.
Und doch. Was tat's. Selbst Ihr habt mich - vertieft.

III.
Aus reifem Leben nun zurückgewendet:
Zu keinem Hass mehr fühl' ich mich beherzt.
Kein Fluch mehr, einem Teil der Welt gespendet!
Das Ganze ist's, das Ganze, was heut schmerzt.




Es martert dich,
dass wir Menschen gleich fraglich sind,
ob wir lachen oder weinen.
Mein Freund, du musst beiseite gehn,
nur selten einem ins Antlitz sehn,
sonst wirst du uns stets verneinen.

*

Die Lösung ist - so sieh doch hin: -
Wer entdeckte doch erst des Menschen Sinn?
Begreif's - und du erträgst die Herde:
,Der Übermensch sei der Sinn der Erde!'




Nietzsche.

Wen er nicht einmal zu Tode beschämt,
wen er nicht einmal zu Tode gelähmt,
hat nie auch nur im Traum geahnt,
was für ein Geist da fragt und mahnt.

*

Ja, gib der Welt nur Wein und Brot,
doch sieh nicht hin, wen du gespeist.
Bei dem und jenem wird's wohl Geist,
doch bei zu vielen nichts als - Kot.




Suprema lex.

Fürchte nie, zu überraschen.
Das ,harmonische Gesetz'
ist ein Netz mit güldnen Maschen.
Du sei wider jedes Netz.

Denn allein das einzig Deine,
Deines Wesens letzter Schluss,
ist das unersetzlich Eine,
was ich von dir fordern muss.




Jenachdem.

Kein Täter fragt im Ernstfall nach Gesetzen.
Die strengste Satzung ist nur Konvention.
Und heilig ist allein der grosse Hohn,
mit dem Befugte ,Heiligstes' verletzen.

Ein andres ist, Gesetze willig achten.
Der Freiste wird vielleicht der Strengste sein.
Er fügt sich gütig in ein Ganzes ein; -
(man kann die Welt auch bürgerlich betrachten).




Vom neuen Reich.

Was auch der Lober Schar anstellt:
Dies Reich ist nicht von unsrer Welt.

*

Wozu, so fragt man sich, Reich, Wohlstand, Macht,
wenn alles das die Menschen nur verflacht.




Zu Russischem und Weiterem.

Erfahr' ich, wie Mitchristen sich geberden,
möcht' ich aus Scham und Ingrimm Jude werden.
Noch mehr! Wie's Jude, Christ und Heide treiben,
verwehrt mir fast, noch länger Mensch zu bleiben.




Allen Knechtschaffenen.

An alle Himmel schreib' ichs an,
die diesen Ball umspannen:
Nicht der Tyrann ist ein schimpflicher Mann,
aber der Knecht des Tyrannen.




Freiheit.

Freiheit ist kein käuflich Gericht;
man hat sie oder man hat sie nicht.
Und wer sie hat, wer wirklich ,frei',
hat noch ein kleines Lächeln dabei.




Gelehrte.

Müsst ihr euch immer prügeln,
wenn ihr aufs Forum wandelt,
könnt ihr euch nie beflügeln,
wenn ihr von Grossem handelt?




Moderne Ästheten.

Näscher hier und Näscher dort,
jeder Stimmung Töpfegucker,
bleibt von unserm Werke fort,
klaubt und klebt an eurem Zucker!

Ein Münzen-Bild für Psychologengaben:
Man muss die Menschen wechseln können
und noch Überschuss haben.

Einen Einzelnen abschätzen heisst schon lügen.
Wer ist denn der Einzelne! Eine Fiction.
Ein Wort in einem Riesensermon,
den wir nicht fassen trotz allen Flügen.

*

Hirn als Mechanismus
erklärt nur das Werk;
des Werks Selbstbemerk
kein Katechismus.

*

Wie süss ist alles erste Kennenlernen!
Du lebst so lange nur, als du entdeckst.
Doch sei getrost: Unendlich ist der Text,
und seine Melodie gesetzt aus - Sternen.




Walter von der Vogelweide.

Ich musste dir als reifer Mensch begegnen,
um dich als köstlichen Gewinn zu segnen.
O Walter, einem Lied wie ,Unter der Linden'
ist wohl in weiter Welt nichts gleich zu finden.




An Dostojewski.

Du tiefer Wegeweiser, warte mein.
Das Buch, in dem ich einst mich selbst will schreiben,
es ist schon heut, noch ungeboren, Dein.
Hilf mir, bis es am Licht, am Leben bleiben.




Zum täglichen Leben.

Harmlosigkeit - wie atm' ich gern darin!
,Intelligent' und ,heiter' sind die Worte,
die geben mir den frohsten Klang und Sinn.
Beglückt das Haus, hoch über dessen Pforte
sie glänzen!




Schach, das Königliche Spiel.

Du bist nicht nur ein Spiel, von Leben schwer,
du bist sein Kampf selbst, formuliert als Spiel.
In Dir erflog der Geist den grossen Stil. Noch mehr:
Du bist des Geistes grosser Stil.




In Wald und Welt.

Lebendige Wesen schreitend aufzuscheuchen,
will Lust im Wald wie in der Welt mich deuchen.
Ein herrlich Wort aus Nietzsches hartem Lachen:
,Das Individuum unbehaglich machen'.




Ein ander Mal.

Drei Rehe stehn wie eine Gruppe starr -
wird er vorübergehn, der fremde Narr?
Er wird vorübergehn, liebreizend Bild;
er ist ein Jäger nur auf Seelenwild.




Der Specht.

Wie ward dir, kleiner Specht, so grosse Kraft!
Von deinem Klopfen tönt der ganze Schaft
der hohen Kiefer. Wär' auch mir vergönnt,
dass ich den Menschen so durchklingen könnt'!


  Christian Morgenstern . 1871 - 1914






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